Samstag, 4. Oktober 2014

Erster Teil

Ihre Hände schmerzten. Eigentlich war es nichts Neues, besonders nicht nach so einer Patrouille. Die meiste Zeit blieb es bei den Rundgängen ruhig, aber Colchi hatte am Abend schon so ein Gefühl, das sich oft als richtig erwies. Langsam wickelte sie die Baumwollbänder von ihren Händen, danach würde sie ihre Krummsäbel reinigen und schärfen. Beides gehörte zu ihrem morgendlichen Ritual. Colchi war eine der Frauen, die für die Sicherheit ihres Volkes zuständig war. Bei den Sylvestris waren die Frauen für diese Aufgabe verantwortlich. Sie waren kräftiger als die Männer, obwohl sie kleiner waren. Die Legende besagte, dass die Männer von Macht und Hass zerfressen in Ungnade ihrer Göttin gefallen sind und sie übergab den weiblichen Nachkommen ihrer Kinder das Geschenk der Stärke und des Geschicks. Die Frauen, die besonders rein im Herzen waren und in enger Verbindung mit dem Wald standen, standen höher in ihrer Gunst und waren bestimmt eine höhere Position in der Gesellschaft einzunehmen. Colchi hatte oft den Ruf ihrer Göttin gehört, doch hatte sie Angst vor den Aufgaben.
Ihr Vater war ein Mann, der den alten Lastern nicht abschwören konnte und beeinflusste viele Menschen. Sie spürte oft sein Blut in ihren Ohren rauschen, wie es ihr tückisch in ihr Herz flüsterte. Gewiss hatte sie ein reines Herz, doch wie lange könnte sie es sich bewahren? Die Versuchung, in einer hohen Position eigennützige Entscheidungen zu treffen, war Colchi einfach zu groß. So entschied sie sich, schon in jungen Jahren, sich im Kampf ausbilden zu lassen und sich für die Patrouille zu bewerben. Der Kampf machte sie frei, frei von ihrem Stand, ihrer Herkunft und manchmal auch von ihrem Volk. Die Arbeit war hart, am härtesten, wenn nichts passierte, aber Colchi fand, dass es die ehrlichste Arbeit war. In dem Bereich des Waldes, in dem die Sylvestris lebten, waren die Ungeheuer des Waldes nicht dumm. Sie näherten sich selten der Stadt und liefen bei Begegnungen mit einem Menschen schnell weg. Doch die Jungtiere oder die Tiere, die von Natur aus sehr aggressiv waren, machten dieses nicht. Lucus wurde in einem alten Gebiet einer Spinnenrasse errichtet. Viele Nachfahren versuchten immer noch, das Gebiet wieder zu erobern, mit wenig Erfolg. Seit Jahrhunderten gab es nur noch Scharmützel von jungen Tieren, die sich für einen Tod der Verwandten rächen wollten. Colchi musste bei dem Gedanken lächeln. Sie bearbeitete schon ihren Säbel, ihr braunes, kurzes Haar glänzte, als sich die ersten morgendlichen Sonnenstrahlen darin verfingen. Die Aranea, wie sie Spinnen sich selbst nannten, waren zwar sehr intelligent, aber bei so einem Angriff wie heute Nacht, fehlte diese gänzlich. Das Jungtier wollte die Patrouille aus dem Hinterhalt angreifen. Dabei hatte es aber zuvor so viel Krach gemacht, als es versuchte sich zu verstecken, dass der Trupp aus vier Frauen, den Colchi anführte, lange vorher gewarnt wurde. Sie gab mit der Zeichensprache der Sylvestris kurze Anweisungen und verschwand selber ungesehen zwischen den Bäumen.
Die drei Frauen sollten als Köder weiter gehen. Es bestand für sie keine Gefahr, das wusste Colchi sehr gut. Der Geruch der Spinne sagte ihr, dass es ein mittelgroßes Jungtier war, weiblich und berauscht von einer Pflanze. Die Spinne, die fast dreifach so groß wie Colchi war, die selbst unter den Frauen ihres Volkes sehr klein und zierlich war, ließ sich wie gedacht, an einem Faden langsam zu den Frauen herunter. Es wollte von hinten angreifen, was sehr geschickt war. Ihr Hinterteil war eine zu große Angriffsfläche und ein guter Bogenschütze konnte schnell die Stellen treffen, wo die lederartige Haut nicht sonderlich dick war. Die Spinne erreichte den Boden und bewegte sich lautlos auf die Gruppe zu, als sie die Vorderbeine anhob und sich bereit für den Sprung machte, räusperte sich Colchi direkt hinter der Spinne. Das Geräusch schien in der Stille des Waldes so laut zu sein, wie ein Wasserfall. Verwirrt und in dem Angriff unterbrochen, drehte die Spinne sich um. Colchi sah direkt in den vernebelten Augen, dass das Jungtier dieses nicht als Gefahr einstufte, sondern nur als eine zusätzliche Zwischenmahlzeit. Die drei Frauen machten in dem kurzen Moment das, was ihnen Colchi angewiesen hatte. Sie liefen links und rechts von der Spinne in den Wald und stellten sich versteckt durch die Dunkelheit, dicht bei der Spinne auf. Colchi richtete das Wort an die Spinne, was ihr nicht sonderlich behagte. Zum einen, weil die Sylvestris sehr selten sprachen, meistens sie die Zeichensprache zur Verständigung, und zum Anderen war die Sprache der Spinnen eine harte, kehlige Sprache. Colchi merkte schon bei den ersten Worten, wie ihre Stimmbänder am nächsten Morgen weh tun würden.
„Jungtier vom Stamm der Aranea, verlasse das Gebiet der Sylvestris. Du hast noch keinen Schaden angerichtet und wir versichern dir, dir dein Leben zu lassen.“
Die Spinne hatte sich nun gänzlich zu Colchi umgedreht und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit und die vielen Augen auf sie.
„Ihr Mörder wollt mir was versichern?“ Meine Verwandten habt ihr abgeschlachtet und dafür sollt ihr sterben!“ zischte die Spinne.
Colchi verdrehte die Augen: „Echt jetzt? Rache für Verwandte? Wie originell! Guck mal, dein Hinterhalt ist in die Hose gegangen. Die andere 'Beute',“ Colchi hob ihre Hände bei dem Wort Beute in die Höhe und machte mit zwei Fingern Gänsefüßchen in die Luft, „ist schon verschwunden und du willst trotzdem in deinem Zustand kämpfen?“
Unsicher drehte sich die Spinne zu der Stelle, an der vor kurzem noch die drei Frauen standen, doch es war nur noch der Wald zu sehen.
Colchi wusste, dass diese mit gespannten Bogen auf die Weichteile der Spinne zielten. Nicht viele von ihrem Volk hätten der Spinne diese Wahl gelassen, aber Colchi fand, dass nur fair. Es war ein ungleicher Kampf und so ein Kampf war für sie nicht befriedigend. Was dann passierte war jeder der vier Frauen klar gewesen. Die Spinne griff an. Früher hatten sie noch darauf gewettet, was passieren würde, aber das hatte Colchi schnell gelassen. Sie verlor dabei zu oft und sie war eine sehr schlechte Verliererin. Die Spinne beugte ihre Beine und setzte zum Sprung an. In einer fließenden Bewegung, die zu schnell für die Augen der Spinne war und auch für viele aus Colchis eigenem Volk, zog sie ihre Krummsäbel und wich dem ersten Angriff der Spinne mühelos aus. Die ersten Pfeile wurden auf die Spinne abgefeuert, zwei trafen das Ziel, der dritte prallte von dem dicken Ledergewebe ab und fiel auf den weichen Waldboden. Die Spinne war jedoch so in Rage, dass sie den Schmerz nicht spürte und ging direkt zum nächsten Angriff über. Colchi duckte sich unter den Vorderbeinen weg und durchschnitt eines der linken Beine der Spinne. Sie hoffte immer noch, dass das Jungtier zur Vernunft kam und den Rückzug antrat. Mit einem Bein weniger konnte es noch problemlos leben. Die Spinne zischte vor Schmerzen und wollte ihre Beute, die gefährlich nah an ihren Reißzähnen war, den Kopf abbeißen, um dann ihr Gift in den restlichen Körper zu pumpen, doch biss sie ins leere. Colchi tauchte zwischen den rechten Beinen hindurch und fügte dem Tier einen langen Schnitt mit ihrem Säbel zu. Dieser war auch nicht sonderlich tief.
Aus dem Wald erklang eine klare Frauenstimme: „Colchi, dieses Tier will den Kampf. Hör auf, es zu verschonen und beende das Leiden lieber schnell!“
Sie seufzte, es war wahr gesprochen. Diese Spinne würde lieber sterben, als mit Verletzungen heim zu kehren. Wie dumm manche Wesen doch sein konnten. Abgelenkt von dem Gesagten verfehlte der Giftstachel der Spinne Colchi nur knapp. Sie ließ sich auf den Boden fallen, rollte sich über ihre linke Schulter von der Spinne weg und sprang mit einem Satz auf die Beine. Ohne zu warten, ging sie direkt zum Angriff über. Sie schnitt ein weiteres Bein ab, das die Spinne zum Angriff gegen sie erhoben hatte. Mit kurzen Schritten tänzelte sie auf ihren Gegner zu, sprang zwischen zwei der Spinnenbeine hinauf auf den Spinnenleib, kreuzte ihre Säbel und schnitt den Kopf der Spinne ab. Diese blieb noch einen kurzen Moment stehen und kippte dann nach rechts um. Colchi sprang im Fall auf einen nahe gelegenen Ast und sah zu, wie das schwarze Blut aus dem Spinnenkörper floss. Sie landete lautlos und sanft auf dem Waldboden. Ihre Gefährtinnen traten aus dem Wald und stellten sich zu ihr.
„Wenn ich dich nicht besser kennen würde, könnte man denken, dass du mit deinem Opfer spielst.“ sagte Medea zu ihr und grinste dabei frech. Sie war eine der Frauen, die nur mit Colchi zusammen arbeiten wollte. Die anderen zwei waren Springer und gehörten keiner festen Gruppe an. Medea wusste, wie stark Colchi war, doch was auf den Tod der Spinne folgte, was auf den Tod eines jeden Feindes folgte, war die reine Macht, die Colchi von der Göttin geschenkt bekam. Viele flüchteten sich davor und wollten deswegen nicht mit in diesem Trupp. Doch Medea war ihrer Göttin nie so nahe gewesen, wie in diesen Momenten. Das Fleisch der Spinne konnte man nicht essen, deswegen kniete sich Colchi neben das Tier. Sie legte eine Hand auf den Körper und fing an, eine Melodie zu summen. Die Blätter in der Nähe nahmen die Melodie auf und raschelten im Einklang mit. Der Waldboden um den Kadaver herum, nahm das schwarze Blut auf und machte Platz für die kleinen Insekten, die in dem Wald lebten. Sie begannen, den Kadaver abzubauen und zu verwerten, was der Wald brauchte, bekam er. Colchi saß immer noch mit geschlossenen Augen da und summte. Die Tierchen bedeckten den ganzen Körper der Spinne, selbst ihr strebsames Summen war im Einklang mit der Melodie. Colchi zog den Arm nicht zurück, sondern verweilte in ihrer Position. Die zwei Frauen wichen von dem Schauplatz zurück, Medea spürte ihre Angst vor den vielen Insekten. Leise begann Colchi zu flüstern. Medea kannte die Worte. Sie schloss ihre Augen und öffnete ihr Herz für ihre Göttin.
„Der Leib für die Welt, der Geist für dich. Soll er seinen Weg finden und ins Diesseits oder ins Jenseits getragen werden. Lerne aus den Fehlern und begegne mir erneut – nicht mit Hass!“ Colchi ließ ihren Arm sinken. Die Melodie hielt weiter an und das sol lange, bis die Arbeit getan war. Sie richtete ihren Kopf gen Himmel, was ihr Medea trotz geschlossener Augen gleich tat. Das Mondlicht stahl sich kurz durch die Wolken und Blätterdecke und beleuchtete den Spinnenkörper. Es war nur einen Herzschlag lang, aber Colchi wusste, wohin die Seele dieses Wesens gewandert war. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie drehte sich um, gab der Truppe einen kurzen Befehl zum Aufbruch und blickte sich nicht mehr um.
Hätte sie es doch bloß getan.

- bell -

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