Samstag, 11. Oktober 2014

Zweiter Teil

"Komm" klang es leise zwischen den Zweigen hervor, es war mehr ein kratziges Zischeln, als verständliche Worte, "Komm schon" erklang es erneut, doch der Angesprochene rührte sich nicht, er starrte weiter durch das Loch in den Blättern.
"Wir müssen von hier verschwinden." die leisen Rufe wurden drängender.
Nervös zitterten die vielen Beine der jungen Spinne. Mutig ging sie einen Schritt auf ihren Bruder zu, verharrte dann und zog sich wieder zurück. Selbst wenn sie gewollt hätte, sie hatte Angst, Angst vor dem Geschehenen und sogar ein bisschen vor ihrem Bruder.
"Es hat unsere Mutter getötet." die Worte erklangen wie ein wütendes rotes Rauschen in ihrem Kopf.
"Es hat unsere Mutter getötet!" Ohnmächtige Wut lag in dem Klang seiner Gedanken. Mizar kniff die Augen zusammen und rückte noch ein Stück weiter von ihrem Bruder weg. Zu ihrer Angst mischte sich jetzt auch die Wut ihres Bruders. Dumme Wut die ihnen beiden nicht helfen würde.
Virgo ging einen Schritt nach vorn, auf die zweibeinigen Wesen zu. Er konnte hören wie der Körper seiner Mutter von diesem Zweibein zerlegt wurde.
"Nein!" wie ein Stechen erklang das heisere laute Wort.
"Wir müssen sie rächen!" kam es als Antwort.
Die junge Spinne im Hintergrund sprang noch einen Schritt weiter weg von ihrem Bruder. Die Worte hatten sie hart getroffen.
"Wie sollen wir sie rächen? Wir sind nicht einmal so groß wie die Kiefer unserer Mutter." dieses Mal klangen die gesprochenen Worte traurig. Mizar konnte spüren wie die Angst in ihr sich mit der Wut vermischte und ein dunkles Loch schufen. Doch ihr Bruder wollte nicht hören. Sie knirschte nervös mit ihrem Kiefer, wünschte sich, einer der Erwachsenen aus ihren Bau wäre hier und könnte ihnen helfen, doch sie waren auf sich gestellt. Ihre Mutter war noch sehr jung, das Gespinnst in dem sie selbst und ihr Bruder geboren wurde, bestand nur aus wenigen Eiern und fast alle ihre Geschwister starben.
Zu jung war diese Spinne, sagten die anderen, viel zu jung, um ihre eigenen Brut zu haben. Doch sie ließ sich von dem Gerede der anderen nicht abhalten. Ob sie wohl gewusst hatte, dass ihr Leben nur so kurz währte? Hatte sie deswegen den Rat der Älteren missachtet? Oder starb sie, weil sie glaubte schnelle Beute für ihren Nachwuchs machen zu können?
Doch Mizar wusste es besser. Ihre Mutter wollte nicht nur Zweibeiner-Beute fangen, sie wollte auch den anderen zeigen, dass sie für ihre Jungen sorgen und allein große Beute jagen konnte. Was wäre gewesen, wenn sie und ihr Bruder nicht existierten, wenn die Zweibeiner nicht ihren Weg gekreuzt hätten und sie nur Jagd auf leichte Beute gemacht hätte. Würde ihre Mutter noch leben?
Vielleicht war genau das der Grund, warum die Alten nicht wollten, dass so junge Spinnen schon Nachwuchs bekamen. Sie waren zu hitzig, unvorsichtig und zu viele der Nachkommen starben. Ganz anders als bei den alten Spinnen, die in ihren großen alten Netzen lebten, die ihren Kindern Geborgenheit und Schutz boten. Sie hatten ihre Brut immer in Blick und konnten diese schnell mit einem starken Faden einfangen.
Ganz langsam drangen Mizars Worte in das Virgos Bewusstseinein. Ihr Bruder sah die Bilder und Worte, die durch ihren Kopf schossen. Mizar konnte fühlen wie seine Wut dahin schmolz und sich eine schwarze Leere ausbreitete. Mutlos sank er zu Boden, die Stücke ihrer Mutter waren bereits vergraben und verstreut. Nichts war mehr vorhanden, das an sie erinnerte nur feuchte aufgewühlte Erde.
"Doch." sagte Mizar in einem traurigen Ton der ihren Bruder noch mehr den Boden unter den Beinen weg zu ziehen schien, "Es ist noch etwas da von unsere Mutter. Wir sind noch hier! Aber wenn wir jetzt angreifen ..."
"Sie haben sie getötet" unterbrach Virgo seine Schwester. Die Worte tropften dunkel und kehlig aus seinen Kiefer hervor. "Warum haben sie das gemacht? Warum hat dieser Zweibeiner unsere Mutter getötet? Sie hat ihm doch nichts angetan!"
Mizar ging auf ihren Bruder zu "Du weißt, dass sie sie für uns getötet hätte um uns zu ernähren?"
Virgo sprang auf und starrte sie an. Seine Schwester zuckte wieder zurück. Sie konnte wieder diese böse und dumme Wut in seinem Verstand spüren. Zwar schwach, aber lauernd und gefährlich.
"Ja, das hätte sie und sie hätte alles Recht dazu gehabt. Diese Wesen sind böse, sie lauern uns auf und töten uns."
Virgos Wut schwappte wie eine Flut über sie und begrub sie darin. Ihre Beine zitterten leicht. Langsam kroch die Angst wieder in ihr hoch. Ihr Bruder konnte die Angst vor ihm fühlen und Schuld stieg in ihm auf. Wieder etwas ruhiger ging Mizar auf ihn zu und legte ihre vorderen Beinpaare um ihn, als wolle sie ihn trösten.
Eine Woge aus Trauer und Leid erfüllte beide und sie verharrten an Ort und Stelle bis die ersten Vögel anfingen den Tag zu begrüßen.
"Wir werden sie rächen. Später. Wenn wir groß und unsere Fäden stark klebrig sind. Wir werden sie rächen!" Mizar war beunruhigt von Virgos Worten, Sie fühlte wie er, doch sie wusste, wie mächtig diese Zweibeiner waren und wie viele es von ihnen gab. Nur diese eine Singende zu erwischen war unmöglich. Niemals traf man einen der Zweibeiner allein. Sie waren zu klug, um schutzlos umher zu streifen. Ihre Waffen waren mächtig und sie konnten auf große Distanz gegen das Volk der Aranea kämpfen. Sie hielten scharfe silberne Dinger in den Händen, mit denen sie die Spinnen töteten.Für eine Aranea war es kaum möglich, diese Wesen zwischen die Kiefer zu bekommen, viel zu nah musste eine Spinne an die hinterlistigen Geschöpfe heran, so nah, dass die Zweibeiner irgendeine versteckte Waffe zogen und zustachen. Mizar erhob sich auf ihre vielen Beine und schüttelte sich benommen. Ihr Bruder hatte ihren Gedanken aufmerksam gelauscht.
"Du vergisst unsere Stärken, Schwester. Wenn wir erst größer sind, sind auch unsere Fäden stärker. Dann werden wir sie finden, aus dem Hinterhalt angreifen und einspinnen."
Sie sah, wie er sich vorstellte hoch oben in den Zweigen eines Baumes zu sitzen, einen silbernen Faden auf den Mörder ihrer Mutter zu schießen, ihn bewegungsunfähig zu machen, ihn einzuspinnen und auf den Baum zu ziehen, während seine Gefährten hilflos in die Höhe schauten und Pfeile schossen, die ihren Bruder wieder und wieder verfehlten.
Der Stolz in ihrem Geist, untermauerte das Vorhaben ihres Bruders nur noch mehr. Mizar glaubte fest daran, dass er eines Tages genau das tun würde und sie stünde an diesen Tag hinter ihm und wartete auf das zarte saftige Fleisch, des blassen Muttermörders.
"Ja," sagte sie mit einer dunkel fröhlichen Stimme, "wir werden sie rächen." Ihre Gedanken waren immer noch auf die gerechte Zukunft gerichtet, aber ihr Geist kehrte wieder in die Gegenwart zurück.
"Aber jetzt lass uns gehen."
Virgo drehte sich zu seiner Brutschwester um.
"Wohin wollen wir gehen? Unser Nest ist leer, unsere Mutter tot und unsere Fäden sind nur so stark, das wir mit dem Wind reisen können. Du weißt, dass wir essen müssen, aber ohne Netz ist das unmöglich."
Er hatte natürlich Recht, das wusste sie genau. Lang dachte sie nach, Namen und Gesichter flogen durch ihren Sinn, bei manchen zuckte ihr Bruder zusammen, andere zauberten ihm ein warmes Gefühl in den Bauch. Plötzlich hielt der Bilderstrom an. Er sah ein altes vernarbtes Gesicht, eine Spinne mit 6 Beinen, die vorderen Augen waren trüb, doch die anderen Augenpaare blickten glasklar in die Welt.
"Nein" hauchte er. "Das willst du nicht tun."
"Was sonst?" fragte sie verzweifelt.
Nun ging er all die Gesichter derer durch, die sie kannten, wieder und wieder tauchten sie auf und verschwanden wie ein Regenschauer der auf den Boden trifft und versickert.
Resigniert nickte er "Ja, lass uns zu Alderamin gehen. Sie wird wissen, was zu tun ist."
"Nicht nur das, Bruder. Sie kann uns auch ausbilden. Denk an ihre Geschichte und ihren Hass auf die Zweibeiner."
Schnell schossen sie Fäden in den Baum, zogen sich hinauf und ließen sich vom Wind davon tragen.
-yve-

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